Expert*innen-Beitrag: Die Freiheit, unternehmerisch zu Gestalten
Expert*innen-Beitrag: Die Freiheit, unternehmerisch zu Gestalten
Expert*innen-Beitrag: Die Freiheit, unternehmerisch zu Gestalten

Expert*innen-Beitrag: Die Freiheit, unternehmerisch zu Gestalten

Über die Autorin: Nancy Frehse ist Ökonomin, Unternehmerin und Expertin für Social Entrepreneurship, Fair Fashion und transformatives Unternehmer*innentum. Mit ihrer Expertise war sie u.a. auch Jurymitglied beim CreativeLab #7 Kreislaufwirtschaft des Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes.
2021 hat sie das Unternehmen Oktopulli mitgegründet, dessen Mission die lokale Produktion genderneutraler und ressourcenschonender Mode ist. So wachsen etwa die Kinderpullover über vier Kleidergrößen mit und die Näher*innen arbeiten direkt in der Werkstatt neben dem Laden in Berlin Kreuzberg. Außerdem ist Oktopulli ein Unternehmen in sogenanntem Verantwortungseigentum.

„Die Idee zu unserem Unternehmen Oktopulli entstand im Frühjahr 2021. Ich war am Ende meines Masterstudiums „Ökonomie und Gesellschaftsgestaltung“, eine leidenschaftliche Hobby-Näherin und vor kurzem Tante geworden. In meiner vorlesungsfreien Zeit entwickelte ich für meinen Neffen einen Pullover, der durch weite Nähte an den Schultern und krempelbare Ärmel quasi mit ihm zusammen mitwachsen sollte. So entstand der allererste Oktopulli. Der praktische Pullover erzeugte vor allem bei den jungen Eltern im Freundeskreis Aufmerksamkeit und Interesse.

Gelangweilt durch die Pandemie und gleichzeitig erschüttert von den Zuständen, unter denen viele Menschen über das Meer nach Europa flüchten mussten, schlug ich meiner damaligen Kommilitonin und heutigen Mitgründerin Carla Reuter vor, den von mir entwickelten Pullover über eine Aktion auf der Social Media Plattform Instagram zu verkaufen. Die Gewinne spendeten wir an den Sea Watch e.V., eine gemeinnützige Initiative zur zivilen Seenotrettung im zentralen Mittelmeer. So entstand der überarbeitete Prototyp unseres heutigen Bestsellers: Ein Kinderpullover, der überwiegend aus geretteten Stoffen gefertigt wird und bis zu vier Kleidergrößen mitwächst.

Wir waren nun Unternehmerinnen – am Anfang einer vor allem gestalterischen Reise aber mit dem Wissen, dass wir die freie Wirtschaft umgestalten wollten. Die bestehenden Strukturen und Narrative schienen uns nicht nur veraltet, sondern maßgeblich an der Zerstörung unserer Zukunft beteiligt. Unsere Vision war es, unsere Energie in eine neue, bessere Art des Wirtschaftens zu investieren. Eine, die den Menschen und unserem Planeten nicht nur nicht schadet, sondern die durch ihre Funktionalität auch als Inspiration für andere dient.

Als wir zwei Monate nach den ersten verkauften Oktopullis auch die nächsten produzierten Pullover innerhalb weniger Stunden verkauft hatten, waren wir uns sicher: unsere Vision von praktischer Fair Fashion hatte einen Nerv getroffen. Die Menschen hatten Lust auf einen Pullover, der ihr Kind lange begleitet und wir hatten Lust, sowohl mit unserem Produkt als auch unternehmerisch neue Wege zu gehen.

Unternehmerisches Gestalten

Wir haben unser Unternehmen von Anfang an wie ein Haus betrachtet. Diese Metapher würde ich gerne auch für diesen Artikel verwenden, denn es macht eine so vielschichtige Sache wie das Gründen eines Unternehmens etwas anschaulicher. Dieses Haus wollten wir so gestalten, dass es für das, was es beinhaltet, möglichst sinnvoll gebaut ist. Wir brachten das Wissen und die Ausbildung mit, die es für ein solides Fundament bedurfte, zudem ein Händchen im Umgang mit Finanzen und juristisches Know-how. Denn es gab Rahmenbedingungen, die auch wir nicht verändern konnten. Um im Beispiel zu bleiben: dass das Haus nach oben gebaut werden muss, wenn wir Tageslicht möchten und dass es sinnvoll ist, ein Dach zu haben, damit es nicht reinregnet.

Außerdem muss dieses Haus bewirtschaftet werden. Für uns bedeutete das: Es schafft Werte, in Form von Dienstleistungen oder Produkten. Diese werden in die Welt gebracht und wenn es gut läuft, von der Zielgruppe angenommen. Mit den dabei entstandenen monetären Werten wiederum wird das Haus finanziert, abgesichert und weiterentwickelt.
Da wir dazu noch einen positiven Impact erzeugen wollten – die Modeindustrie ist immer noch ein oft unmoralisches und von Ausbeutung querfinanziertes Geschäft – war ebenfalls klar, dass wir unser Haus nachhaltig, hoch und weit bauen möchten. Für den Zweck dieser Unternehmung, unser Dach sozusagen, brauchten wir daher eine sinnvolle Rechtsform, auf die ich weiter unten im Text genauer eingehen werde.

Als Ökonominnen waren wir davon überzeugt, dass unser Wirtschaftssystem neben all seinen rechtlichen Verbindlichkeiten und den notwenigen Rahmenbedingungen von Produktion und Verkauf vor allem aus Gewohnheiten und Wertevorstellungen besteht. Das gab uns einen Gestaltungsspielraum, den wir nutzen wollten, indem wir anfingen, das Haus nach unseren Vorstellungen einzurichten. Dieses Gestalten ist heute noch der schönste Teil unserer unternehmerischen Reise.

Dabei hinterfragten wir bei jedem Schritt, von Preisfindung und Preisgestaltung über Gehaltspolitik, Personalwahl, Zielgruppe oder Produktionskreisläufen stets: „Welche Konventionen stecken dahinter und sind sie da, weil sie sinnvoll sind, oder gründen sie auf einem für unser Vorhaben eigentlich ungesunden Narrativ?“.


Gestalten nach Außen

Hier möchte ich als Beispiel näher auf unsere Preisfindung und -gestaltung eingehen. Wir haben uns ganz zu Beginn natürlich gefragt, wie viel unser Oktopulli kosten soll. Schnell war klar, dass die Produktionskosten und eine damit verbundene wirtschaftliche Gestaltung des Preises eine ganze Zielgruppe ausschließen würde, die wir aber eigentlich erreichen wollten. Nämlich Menschen, die aus Preisgründen auf Fast Fashion zurückgreifen und für die unser Mitwachskonzept eigentlich ein finanzierbarer Zugang zu Fair Fashion wäre. Jedoch nicht, wenn der Preis, selbst mit dem Bonus der langen Nutzung, zu weit von den finanziellen Möglichkeiten dieser Zielgruppe abweicht.
Den Preis einfach günstiger zu machen, war für uns aber keine Option. Denn dann hätten wir entweder an der fairen Herstellung oder am Material sparen müssen. Beides widersprach ebenfalls der Grundidee von Oktopulli.

Also schauten wir uns Bereiche an, die solche Herausforderungen klug angehen, jedoch eher nicht in der typischen freien Wirtschaft zu finden sind. Wir stießen sehr bald auf das einfache Prinzip der solidarischen Umverteilung. Gesellschaftlich kennen wir dieses Prinzip von unserem Steuersystem. Diejenigen die mehr haben geben mehr, damit Wohlstand für alle entstehen kann. Wir selbst kannten solidarische Preiskonzepte vor allem aus unserem Studium. Dort wurden sowohl die Kosten für Studiengebühren als auch die Unterkunft im hiesigen Studierendenwohnheim so geregelt, dass die, die mehr geben können, diejenigen mitfinanzieren, für die die Grundkosten zu hoch waren.

Da wir durchaus Interesse daran haben, Gewinne zu erwirtschaften, um für die Zukunft Rücklagen zu bilden, konnten wir keinen Preis bestimmen, der aus wirtschaftlicher Sicht nicht tragfähig gewesen wäre. Also haben wir uns, inspiriert durch zahlreiche funktionierende Konzepte der Umverteilung, für eine Auswahl aus drei verschiedenen Preisen entschieden: Einen Basispreis, der all unsere Kosten deckt und Rücklagen zulässt, einen solidarischen Mindestpreis, der im bezahlbaren Rahmen (bezogen auf Kosten-Nutzen) liegt und einen Supporter*innenpreis, bei dem Kund*innen in Fünf-Euro-Schritten entscheiden können, wieviel an Aufpreis sie zahlen möchten, um den solidarischen Topf zu füllen. Dieses Preismodell haben wir nun seit knapp drei Jahren und entgegen aller Erwartungen unserer Kritiker*innen sind sehr viele Menschen bereit, freiwillig und solidarisch einen höheren Preis zu bezahlen. Mittlerweile fügt durchschnittlich jede fünfte Person im Warenkorb den Supporter*innenpreis hinzu und zahlt somit in das Prinzip der Umverteilung ein.

Gestalten nach Innen

Auch für uns als Team haben wir Lösungen gefunden, die nicht dem unternehmerischen Standard entsprechen. Beispielsweise sind wir gegenüber unseren Mitarbeitenden von Beginn an zu einhundert Prozent transparent mit Zahlen, Umsätzen und Gewinnen umgegangen. Jede Person, die in einem (neu gegründeten) Unternehmen arbeitet, sollte unserer Meinung nach auch darüber Bescheid wissen, wie es sich wirtschaftlich entwickelt. Wir haben unseren Kolleg*innen von Anfang an zugetraut, selbstbestimmt zu entscheiden, ob sie mit etwaigen Ungewissheiten und Unsicherheiten umgehen möchten.

Aber auch beim Thema Gehalt sind wir neue Wege gegangen. Betrachtet man die Normalität in den meisten Gehaltsverhältnissen, ist es immer noch so, dass diejenigen, die eine gesellschaftlich anerkanntere Ausbildung wie ein abgeschlossenes Studium haben, mehr verdienen als andere. Das wollten wir ändern und haben, neben einem transparenten Gehaltsmodell, auch einen gemeinschaftlichen Grundlohn ausgearbeitet, der unabhängig von der jeweiligen mitgebrachten Ausbildung gilt. Die Menschen im Team, die darüber hinaus besonders viel Erfahrung mitbringen und auch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, bekommen mehr Gehalt. Das, was am Ende des Jahres über den unternehmerischen Bedarf, inklusive Rücklagen, hinaus erwirtschaftet wurde, wird als Bonus fair an alle ausgeschüttet.

Fast alle, die zu Beginn von Oktopulli dabei waren, sind heute noch da. Das Team zählt mittlerweile acht Kolleg*innen, unser ehemaliger Praktikant leitet mittlerweile unsere Kund*innenkommunikation. Wir sind ein Modelabel, das unter anderem in der eigenen Werkstatt fertigt, unsere Werkstatträume in Berlin grenzen direkt an unsere Büroräume. Außerdem arbeiten wir mit zwei externen Werkstätten in Deutschland zusammen.

Unser gemeinsames Ziel ist es, auf eine gute Mittelstandsgröße zu wachsen und selbst wieder im Nähhandwerk auszubilden. Wir sind als Team angetreten, um nicht nur einen sinnvollen Impact zu generieren, sondern auch, um uns einen Arbeitsplatz aufzubauen, der uns existenziell sichert und dabei im besten Fall auch guttut. Transparenz gegenüber Gehältern und der finanziellen Lage des Unternehmens ist keine Selbstverständlichkeit und wird durchaus auch kritisch betrachtet. Für uns und unser Vorhaben hat beides aber Sinn gemacht und uns dabei geholfen, die Menschen an uns zu binden, die Lust haben, zusammen auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten. Vieles davon ist mittlerweile zur festen unternehmerischen Kultur geworden, die wir institutionell verankern und absichern. Ganz nebenbei bringt diese Kultur der Transparenz und des gemeinsamen Purpose vor allem junge und motivierte Menschen aus dem Handwerk zu uns.

Die passende Rechtsform

Ich möchte zum Schluss noch einmal auf das Dach unseres Hauses, also die passende Rechtsform zurückkommen. Eine Firma zusammen mit den Mitarbeitenden aufzubauen, vielleicht auch gemeinsam durch existenziell unsichere Zeiten zu gehen, bedarf viel gegenseitiges Vertrauen. Doch bei Vertrauen alleine wollten wir es in unserem Fall nicht belassen. Wir haben durch Freund*innen und Bekannte miterlebt, wie sie ihr Können und ihr Engagement in Unternehmen gesteckt haben, die zunächst für einen klaren Impact angetreten sind. Nach einer gewissen Zeit verschob sich das Unternehmensziel jedoch immer mehr in Richtung eines möglichen Exits, also gewinnbringenden Verkaufs. Das wollten wir für uns rechtlich ausschließen.

Wie die Arbeit von Vielen im Besitz und im Wohlstand Einzelner münden kann ist ein Gedanke, der meiner Mitgründerin und mir widerstrebt. Unsere Kolleg*innen in schwierigen Zeiten damit zu motivieren, dass sie ja nicht für uns, sondern für ein gemeinsames Ziel arbeiten, erschien uns schal, wenn es am Ende allein unsere Entscheidung wäre, die Firma bei passender Gelegenheit zu verkaufen.

Wir definierten also eine für uns faire und mit dem Team abgesprochene Gründungskompensation. Damit wollten wir das besondere Risiko und auch die Umsetzung der Gründungsidee anerkennen. Im August 2021 verwandelten wir Oktopulli in eine GmbH mit gebundenem Vermögen (Verantwortungseigentum). Durch das Veto-Share-Modell der Purpose Stiftung sorgten wir dafür, dass Oktopulli in der Zukunft:

1. Nicht gewinnbringend verkauft werden darf und wir uns als Gesellschafter*innen, bis auf die ausgemachte Gründungskompensation, auch keine Gewinne entnehmen dürfen.

2. Nicht vererbt werden darf.

3. Die Gewinnrechte potenzieller Investor*innen von den Stimmrechten getrennt sind.

Von diesem Moment an waren unsere Kolleg*innen also nicht mehr nur auf unser Wort angewiesen. Wir hatten unsere Vorstellung eines unternehmerischen Organismus auch rechtlich abgesichert.

Mut zum eigenen, unternehmerischen Haus

Es gibt noch zahlreiche andere Bereiche, in denen wir mutig vorangegangen sind, kreativ und nach unseren Wertvorstellungen neu gestaltet haben. Dazu gehören eine bedarfsorientierte On-Demand- Produktion oder New Work-Ansätze im Handwerk. Für uns war es spannend zu sehen, wie dankbar unsere Vision eines „mit Gewohnheiten brechenden“ Unternehmens angenommen wurde. Die Art, wie wir unsere unternehmerische Freiheit nutzten, um Oktopulli zu gestalten, sprach auch unsere Kund*innen an. Sie wurden selbst zu Gestalter*innen, die immer wieder neue Ideen in das Unternehmen einbringen.

Dieser Artikel soll jedoch nicht den Eindruck vermitteln, dass alle Gründer*innen unserem Weg folgen sollen. Er soll aber Mut machen, dass es Möglichkeiten und Bereiche gibt, in denen unsere unternehmerische Gestaltung kaum Grenzen kennt. Wie das im Endeffekt aussieht, ist so vielfältig wie die Ideen und die Menschen, die sie entwickeln. Unternehmen sind soziale Konstrukte und funktionieren nicht nach Schema F oder einer vorgefertigten Schablone. Ein gutes ökonomisches Fundament und die passenden rechtlichen Rahmengebungen können als Voraussetzung schon ausreichen, um im unternehmerischen Haus selbst agil und kreativ zu bleiben.

Wer soll in diesem Haus tätig sein? Wen möchten wir einladen, mit uns zu kooperieren? Wie sehen diese Kooperationen aus? Wer ist unsere Zielgruppe? Beginnt die Fertigung im Erdgeschoss und endet im Dachstuhl oder umgekehrt? Das alles sind Entscheidungen, die wir uns stellen dürfen. Niemand muss die Welt neu erfinden, doch nur aus Gewohnheit an ungesunden oder undienlichen Konventionen festzuhalten, wäre doch zu schade. Gerade, wenn wir Mut, Wissen, Leidenschaft und Energie in die Gründung eines Unternehmens stecken.“