„Eigentlich ist mit Kafka und Asterix und Obelix alles zum Thema Bürokratie gesagt, was es zu sagen gibt“, findet Leonie Pichler. Das Dystopische, das Absurde und das ungewollt komische dieser Welt, mit der wir zwangsweise immer wieder in Kontakt kommen, nur um mit der Frage herauszugehen: Muss das so sein? Muss es nicht, findet Pichler. Dass Bürokratie ganz anders sein kann, menschlicher, besser, logischer, will die Augsburger Theatermacherin in einem neuen Projekt beweisen, das gerade vom Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes gestartet wurde. „Phase XI“ heißt das Großvorhaben, ein auf acht Orte – die Labs – verteilter Thinktank, in dem Kreative von Juni bis Oktober konkrete Beiträge zu Zukunftsfragen entwickeln sollen. Keine Thesenpapiere, sondern umsetzbare Konzepte, entwickelt in einem zügigen Prozess von Forschung, Entwicklung und Experiment. Rapid Prototyping für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik.
„Ich sehe das als ein großes Versuchsbecken, in dem wir ausprobieren können, wie wir als Kreativbranche gesellschaftliche Wirkung entfalten können“, sagt der IT-Unternehmer und Gamification-Experte Christoph Brosius, einer der Fellows des Kompetenzzentrums, die gerade an Konzepten für die elf Themenbereiche arbeiten. „Wir gehen ganz bewusst auch in Bereiche wie ‚Zukunft der Mobilität‘, in denen schon viele starke Akteure unterwegs sind“, sagt Lutz Woellert, Mitgründer der Beratungsfirma Identitätsstiftung. „Weil wir das aus unserer Praxis kennen, dass da viel nebeneinander her gearbeitet wird und viele Problemlösungskompetenzen gar nicht gesehen werden. Oder dass man Themen den Spezialisten überlässt, anstatt sie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu sehen.“
Mit einer neuen Sichtweise an alte Probleme herangehen und neue Netzwerke bilden: Das will auch der Stadtplaner Matthias Burgbacher, der zusammen mit Leonie Pichler das Lab Bürokratieabbau aufbaut. Schon die Zusammensetzung dieses Duos ist ungewöhnlich: „Dass wir überhaupt zusammenarbeiten, verdanken wir dem Kompetenzzentrum, sagt Burgbacher, „die haben uns zusammengesetzt und meinten: Ihr passt gut zusammen.“ War dann auch so: „Ich bin die Arbeit mit städtischen Verwaltungen gewohnt, ich habe ein starkes Methodenwissen, ich arbeite mit Daten. Und Leonie befasst sich mit der theatralen Darstellung von Lösungen. Und das klappt super.“
Er sieht Phase XI als Chance, schnell und niederschwellig konkrete Ideen zu erarbeiten. „Das ist ein Gegenmodell zu Akteuren wie der Bundestagskommission Bürokratieabbau – die hat in fünf Jahren Arbeit keine greifbaren Resultate geliefert.“ In einer ersten Forschungsphase werden Pichler und Burgbacher Daten, Erfahrungen und Best-Practice-Beispiele sammeln, durch Verwaltungen touren, mit vielen Menschen auf beiden Seiten des Behördenschreibtisches sprechen. „Warum sind Behördenkontakte so unangenehm? Warum ist die Sprache so entmenschlicht? Was macht das mit den Menschen? Was könnte anders, besser sein?“, fragt Pichler. Umsetzen will sie die Erfahrungen in Form einer Inszenierung am Sitz der wichtigsten deutschen Behörde, des Bundesverfassungsgerichtes. In Karlsruhe sollen Räume angemietet werden, in denen Besucher erst eine dystopische Bürokratiewelt erleben – und dann eine Welt der Möglichkeiten. „Als Besucher möchten wir gerne Menschen haben, die in Behörden arbeiten. Dabei wollen wir nicht nur kritisieren, das soll auch Spaß machen.“
Und Ängste nehmen, etwa vor der Digitalisierung: „In vielen Behörden gibt es da Vorbehalte, weil die Menschen die Sorge haben, dass ihre Jobs wegdigitalisiert werden.“ Dabei könnte die Digitalisierung viel dazu beitragen, Behördenhandeln nachvollziehbarer zu machen, meint Pichler: „Wenn durch Digitalisierung Informationen ganz einfach zugänglich sind, wenn Abläufe transparent und nachvollziehbar werden, ist das eine Riesenchance gegen Willkür und Frusterfahrungen. Und das wirkt sich wieder positiv auf die Behördenarbeit aus. Wir wollen den Leuten sagen: Reitet die Welle anstatt Dämme aufzubauen.“
Eine neue Sichtweise auf die Digitalisierung soll auch im Phase IX-Lab „Datatelling“ entstehen. Hinter dem eigenwilligen Kunstwort steht die Idee, das Thema Datensammlung einmal nicht zu betrachten vor dem Hintergrund der Frage, was Konzerne, was Behörden mit all den Informationen machen, die wir bereitwillig im Netz hinterlassen. Stattdessen kommen in diesem Lab Fellows zusammen, die alle schon Datensammlungen genutzt zu haben, um im positiven Sinne Geschichte zu erzählen: Carolyn Braun, die als Teil des Journalismus-Projekts Follow The Money GPS-Daten benutzte, um aufzuzeigen, was tatsächlich mit all dem Elektroschrott passiert, den wir im guten Glauben beim Recyclinghof abgeben. Marco Maas, der an Transparenzprojekten wie Lobbyplag beteiligt war und gerade an einem Algorithmus arbeitet, der uns im Netz besser mit Nachrichten versorgen soll. Und Jacob Vicari, der Verbraucher auf subversive Art damit konfrontiert, wie ihre Nahrung erzeugt wird: Er arbeitet mit Live-Daten aus der Tierhaltung, die er in Form automatisch generierter Geschichten auf Displays ausspielen will, die er in Alltagsgegenständen wie Einkaufswagen und Frühstückbrettchen einbaut. „Daten können eine Geschichte erzählen und Vorurteile widerlegen“, sagt Vicari. „Wenn dir zum Beispiel dein Einkaufswagen sagt: Hey, diese Bio-zertifizierte Milch ist gar nicht tierschonender erzeugt worden als die andere.“
Ein wesentlicher Punkt der Arbeit in den acht Labs ist die Vernetzung mit Akteuren, die schon in den jeweiligen Bereichen unterwegs sind. Zum Beispiel das Marktforschungsunternehmen GfK, mit dem Christoph Brosius um Lab „Testmärkte der Zukunft“ kooperieren wird. Sitz des Projekts wird Haßloch, seit Jahrzehnten Lieblingsort aller Marktforscher, weil diese Gemeinde wie kaum eine andere den deutschen Bevölkerungsdurchschnitt repräsentiert. „Normalerweise werden Produkte so entwickelt, dass sie eine möglichst große Durchschnittsmasse ansprechen“, sagt Brosius „Und wir wollen diesen Prozess umdrehen und schauen, wie man Produkte so gestalten kann, dass wir den Menschen dabei nicht nur als dumme Kaufkuh sieht, sondern als ganzheitliches Wesen, das mit dem Kauf seine Gefühle ausdrückt.“
Wichtig ist auch die regionale Vernetzung, zum Beispiel im Lab „Zukunft des ländlichen Raums“: Hier wird der Journalist und Theatermacher Michael Leitner mit dem Zürcher Alpinisten und Philosophieprofessor und Bergführer Jens Badura zusammenarbeiten. Zusammen wollen sie erforschen, wie man ein anderes Bild vom Alpenraum und seiner Zukunft zeichnen kann als die Postkartenidylle, die Tourismusverbände so lieben. Und das zusammen mit den Menschen vor Ort: „Wir wollen nicht, wie es sonst oft auf dem Land passiert, mit einer Phalanx von Beratern einfallen, die den Leuten dann Konzepte aufdrücken wollen, die da gar nicht funktionieren“, sagt Leitner, der als Sohn von Hüttenwirten selbst in der Alpinregion groß geworden ist und weiß, wie diese besondere Landschaft die Menschen prägt. „Die Kombination von Berg und Tal, dieses landschaftliche Extrem, führt auch zu Extremen in den Charakteren. Diese Mentalität muss man kennen.“
Das Projekt „Phase XI“ ist streng getaktet, der Vorarbeit in den Regionen folgt am 13. Juni ein erster übergreifender Workshop in Berlin, auf dem Teams sich gegenseitig ihre Projektskizzen vorstellen, diskutieren und auf Vernetzungsmöglichkeiten abklopfen. Dann startet die eigentliche Aufbauarbeit in den Labs, die wöchentlich dokumentiert wird auf der Projektsite http://logbuch-phase-elf.de/. Eine erste Werkschau findet im Juli statt, wenn das Kompetenzzentrum zwei „Learning Journeys“ organisiert, bei denen verschiedene Labs besucht werden können. Um es mit Leonie Pichler zu sagen: „Ich hätte gern, dass die Besucher am Ende da rausgehen und sich auf die Zukunft freuen.“