Ein halbes Jahr ist es her, dass der erste unternehmensinterne Workshop stattfand, indem es um einen neuen Modus unserer Organisation ging, den unternehmerischen Shift oder wie wir es genannt haben: Unseren u-turn.
Es wurden Task Forces gebildet, kritische Fragen gestellt und utopische Fantasien geteilt.
Was braucht unser Unternehmen für morgen? „Remote Work“, „Interne Wissensvermittlung“, „Feierkultur“ sind einige der Zwischenantworten aber noch längst nicht alle dringlichen Tasks, die entstanden sind. Doch wie etabliert man diese Transformationen? Was hat sich in sechs Monaten verändert? Und was ist, wenn dir die Puste ausgeht?
Ein Gespräch mit Julian Römer über Erfahrungen, Erwartungen, Frust und Perspektiven beim u-turn des u-instituts.
Merkst du schon, dass sich das u-institut verändert? Und wenn ja, woran merkst du es?
Ja! Es mag klein klingen, aber die Tatsache, dass allen klar ist, dass die größte und schmerzhafteste Transformation in der Unternehmensgeschichte gerade stattfindet und das auch akzeptiert wird, ist schon ein riesen Ding. Natürlich ist es noch nicht überall gleich weit und nicht so weit, wie ich es manchmal gerne hätte, aber das ist ein stückweit normal.
Konkret merke ich den Unterschied zum Beispiel daran, dass es normal geworden ist, über das Unternehmen, unsere Kultur, uns als Menschen zu sprechen und zu reflektieren – jenseits eines allgemeinen und unkonkreten „sich Beschwerens“ ohne jede Lösungsabsicht.
Mittlerweile kann man neue Formen und Regeln der Zusammenarbeit, wie beispielsweise das Wegfallen bestimmter, historisch gewachsener, aber obsoleten Abstimmungsprozesse, vorstellen und einführen, ohne dass es irgendwen überrascht und das größere Verunsicherungen verursacht. Ob es auf Anhieb klappt, steht auf einem anderen Blatt, aber der Raum des Möglichen ist gerade enorm weit geöffnet
Ich glaube auch, dass das Gefühl von Handlungsautonomie der einzelnen Mitarbeiter*innen sich nicht über Nacht einstellt, sondern einen Lernweg voraussetzt und das braucht Zeit.
Was sind aus deiner aktuellen Perspektive die größten Herausforderungen in puncto Organisationsentwicklung?
Als erstes fällt das logische Paradoxon ins Auge, das mit der Transition zu selbst-verantwortlicherem Arbeiten und flacheren Hierarchien einher geht. Die Aufforderung, selbstbestimmt und autonom zu agieren bringt alle Beteiligten in ein Dilemma und ist also zum Scheitern verurteilt. Denn Folgeleisten ist das Gegenteil von Selbstbestimmtheit.
Das bisherige Equilibrium von Aufgabendelegation abwärts- und Verantwortungsdelegation aufwärts der hierarchischen Achse muss also anders ersetzt werden.
Organisationsentwicklung, wie wir sie gerade gestalten, ist per se unmöglich und hochgradig irrational und trotzdem notwendig und daher sehr aufregend.
Für mich bedeutet das, dass ich Autonomie und Selbstbestimmung nur über die Menschen in die Organisation bringen kann – über die Stärkung von individuellen Ressourcen wie psychologischer Sicherheit, selbstbestätigende Erfahrungen und Reflexion, also größerer individueller, innerliche Reife, wenn man so sagen kann. Die erste Herausforderung ist also, das äußere Skelett der Strukturen und Hierarchien, gegen ein inneres Skelett individueller innerlicher Reife zu ersetzen.
Daran anschließend ergibt sich direkt die Frage der Orientierung und der Ausrichtung des Unternehmens. Auch wenn es keine Führungspositionen im herkömmlichen Sinne mehr gibt, müssen zutiefst unternehmerische Entscheidungen getroffen und dafür Verantwortung übernommen werden. Führung muss also nicht abgeschafft, sondern themenbezogen übernommen werden.
Dazu gehören Fragen der Organisationsentwicklung, wie wir sie mit dem u-turn bearbeiten und wofür Katharina und ich die Entscheidung getroffen haben und damit die Verantwortung übernehmen.
Mit mehr Selbstbestimmung und horizontal verteilter Verantwortung geht nicht automatisch einher, dass jede*r weiß, in welche Richtung es insgesamt gehen soll. Das Schaffen von Orientierung war bisher an Führungspositionen gekoppelt, bzw. wurde von Führungspersonen erwartet. Diese Zuständigkeit kann jedoch nicht einfach aufgehoben- und ohne weiteres ins Team zurückgegeben werden. Der Frage, wie strategische Entscheidungen getroffen werden können – also im Kern unternehmerisch gehandelt werden kann – wenn es keine*n Unternehmer*in mehr im engeren Sinne gibt, folgt die Herausforderung, Umstände zu schaffen, in denen es allen beteiligten möglich ist, kluge Entscheidungen im Sinne des Unternehmens zu fällen.
In diesem Zusammenhang empfinde ich als weitere Herausforderung das kollektive Loslassen von alten Strukturen und gelernten Mustern im Denken und Handeln. Auch wenn der Möglichkeitsraum für Veränderung und Neues für jede*n spürbar weit geöffnet ist, fällt das gelegentlich schwer.
Welche Rolle spielen deiner Meinung nach Rahmenbedingungen, damit sich Wandel zutragen kann?
Ich bin mir gar nicht sicher, ob Rahmenbedingungen überhaupt eine Rolle spielen. Also, sicher, eine Transformation in diesem Ausmaß, aber auch eine Organisation mit flachen Hierarchien und verteilten Verantwortlichkeiten muss man sich leisten können. Insbesondere der Anfang ist sehr Kosten-, Zeit- und Ressourcenintensiv. Zu den Erstverschlimmerungen gehört sicherlich auch eine sinkende Effizienz. Aber auf lange Sicht ist das natürlich eine Investition, deren Wert sich im Laufe der Zeit zeigen wird – in Form von höherer Motivation und Zufriedenheit, geringerer Fluktuation, Wachstum, Effizienz und Flexibilität.
Auf einer anderen Ebene muss natürlich auch der Raum geschaffen und gegeben werden, dass sich jede*r einzelne mit der Transformation beschäftigen kann. Eine derartige Transformation bedeutet ja sehr viel Reflexionsarbeit auf individueller und organisationaler Ebene: Wie fühlt sich etwas an? Was löst das in mir aus? Was für Gedanken, Gefühle und Ängste kommen auf, die ich bisher noch nicht kannte? Was brauche ich? All diese Fragen brauchen Raum, der bisher ja schon mehr als voll mit dem täglichen Aufgaben war. Aufgaben müssen also aktiv umverteilt, gekürzt, anderweitig vergeben werden. Das gilt auf allen hierarchischen Ebenen.
Was frustriert? Wie geht man damit um?
Das ist eine schwierige Frage, weil Organisationen eine natürliche Tendenz haben, sich selbst genau so zu reproduzieren, wie sie sind, also an allem festzuhalten, was den Status Quo, die derzeitige Kultur ausmacht. Wahrscheinlich ist die Steintaktik die meist genutzte Taktik überhaupt: Sich nicht bewegen und warten, bis das Wasser abgeflossen ist, heißt, wenn ich lange genug stillhalte, wird sich die Aufregung irgendwann wieder legen.
Als derjenige, der den kulturellen Wandel maßgeblich mitgestaltet, muss ich mich natürlich darauf gefasst machen.
Außerdem ist die Transformation eines komplexen Systems wie unser Unternehmen einigermaßen kontingent. Das heißt, man kann Impulse reingeben, die dann aber nicht linear-kausal die Wirkung haben werden, die man sich anfänglich überlegt. Auch wenn man immer wieder der Versuchung erliegt, wird sich das nicht ändern.
Das heißt, ich muss mich frei machen von meinen eigenen Erwartungen und Vorstellungen. Die Tatsache, dass die Organisation in Bewegung ist, ist Erfolg genug und oftmals auch belohnend genug.
Schlimm wird es, wenn man vor lauter Eigendrehung und Beschäftigung mit sich selbst, vergisst, über den Tellerrand hinaus zu schauen. Dann geht einem irgendwann die Inspiration und Motivation flöten. Das heißt, man muss sich immer wieder Freiräume schaffen, um in die Außenbewegung zu kommen und neue Impulse aufnehmen zu können.
Wie sind Erwartungen der Beteiligten zu managen und zu bewerten?
Erwartungsmanagement gehört sicherlich zum schwierigsten Teil eines solchen Transformationsprozesses.
Einerseits lässt sich das Team gerade auf einen Prozess ein, dessen Ende und Ergebnis nicht absehbar ist. Das Öffnen des Möglichkeitsraums ist allerdings dann gefährlich, wenn die Fortschritte zu lange auf sich warten lassen. Aber gerade der individuelle, psychische Anteil und Fortschritt wird oft erst sehr spät erkannt. Um hier das Momentum nicht zu verlieren, muss in meinen Augen gleichzeitig auf der strukturellen Ebene sichtbare Veränderung stattfinden. Die Kunst ist es, hier zu schauen, wie weit das Team ist und fein zu justieren.
Aber wie immer gilt, in Gesprächen auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Formaten lassen sich die meisten Dinge klären und damit die Erwartungen einfangen.
Wo ist das u-institut in weiteren 5 Monaten?
Ich fände es wahnsinnig toll, wenn Menschen, die uns „von früher“ kennen, uns nicht wiedererkennen. Zumindest intern.
In meiner Vorstellung sind wir aber das, was wir schon immer waren: Wegbereiter*innen und Gestalter*innen einer Welt und Gesellschaft von morgen, durch das Aufzeigen von gelebten Utopien und das Geben von Impulsen in Themenfeldern, die unterschätzt werden, aber entscheidend sind.
Die Sport Metapher
Es ist ein bisschen wie ein Neujahrsvorsatz zu mehr Sport und Bewegung: Die Möglichkeit, mehr Sport zu machen führt nicht dazu, dass ich tatsächlich auch mehr Sport mache. Es ist notwendig und wichtig, dass ich meinen inneren Schweinehund immer wieder auf‘s Neue überwinde und tatsächlich vor die Tür gehe. Und dann reicht es nicht, dass ich mich nur bewege, sondern bin damit konfrontiert, dass ich anfänglich noch schnell aus der Puste komme und es unfassbar anstrengend ist, dass ich Muskelkater bekomme, dass ich meine Ernährung hinterfragen muss und so weiter.
Auf die Organisation bezogen bedeutet das, dass ich einen Trainingsplan brauche und Menschen, die stärker sind als die Gravitation hin zum Status-quo. Wunden müssen gepflegt, der Muskel auch mal geschont werden und immer wieder neue Ziele definiert werden, damit der Trainingseffekt nicht verpufft.
Es müssen also nach und nach neue Strukturen entwickelt werden, neue Meetingformate, neue Regeln für die Zusammenarbeit, neue Rollen und Verantwortlichkeiten. Schritt für Schritt. Aber anders als beim Vorsatz mehr Sport zu treiben ist eine organisationelle Transformation wie wir sie gerade gestalten eine Reise mit offenem Ausgang und ohne Rückweg.
Es darf einem also nicht die Puste ausgehen, auch wenn man denkt, dass die Organisation wie sie mal war, auch ganz nett war. Sie ist für immer tot. Insofern stimmt die Sportmetapher wiederum nicht, weil man immer zurück aufs Sofa kann. Vielleicht ist das der entscheidende Unterschied.
Ich glaube, die Herausforderung ist es, sich immer wieder neu darauf zu einigen, dass man den Schmerz der Veränderung und des Verlusts von bekannten Mustern und Strukturen willentlich und gemeinsam eingeht, um sich auf was gänzlich Unbekanntes und Unverwertbares einzulassen. Der Prozess findet kontinuierlich statt und hört auch nicht einfach irgendwann auf. Das passt wieder zum Bild vom Sport: der Erfolg wird sichtbar, wenn man dranbleibt.
Julian arbeitet in der Strategie- und Organisationsentwicklung des u-institut und hat gemeinsam mit unserer Kollegin Katharina den u-turn initiiert und begleitet seitdem den Prozess.
Kontakt: roemer@u-institut.com