Nach dem zweiten Weltkrieg gehörte der Bayrische Wald durch die neue innerdeutsche Grenze zum Zonenrandgebiet. Die Gegend war von Landwirtschaft geprägt, was hier viel Arbeit und trotzdem wenig Einkommen bedeutete. Für junge Menschen gab es kaum Perspektiven, es hieß entweder den Hof der Eltern übernehmen oder als Tagelöhner nach München zu fahren.
Heute ist das anders. Im Landkreis Cham zum Beispiel liegt die Arbeitslosenquote im Mai 2019 bei nur 1,9 Prozent und man gehört mit dem Technologie Campus Cham der Technischen Hochschule Deggendorf und zahlreichen Unternehmen aus dem Technologie-Sektor zum „Silicon Valley von Bayern“. Keine schlechten Voraussetzungen für ein modernes Leben, trotzdem veröden die Kerne vieler kleiner Orte. Die Jungen wohnen in den größeren Städten oder bauen Häuser am Ortsrand nach eigenem Geschmack, die klobige Architektur der Eltern und Großeltern ist unbeliebt.
Thomas E. Bauer wächst im Bayrischen Wald auf, geht aber nach einer Ausbildung bei den Regensburger Domspatzen seinen Weg als Bariton, der ihn in die Konzertsäle der Welt von München bis Kyoto führt. Er beobachtet die Entwicklung in seiner Heimat aus der Ferne. Als er sich für ein Bauernhaus aus dem 16. Jahrhundert im Dorf Blaibach interessiert, involviert er sich. Das Haus steht mitten im Ortskern, der zusehends verwaist. Dagegen will er mit dem Architekten Peter Haimerl, mit dem er auch sein Bauernhaus saniert, angehen.
Die erste Idee, der Umbau seines Stadls, indem dann Konzerte stattfinden sollten, wurde verworfen. „Das gibt es schon zu genüge. Und so saßen wir vor meiner Bruchbude. Wenn wir ein Projekt in die Tat umsetzen wollten, dann richtig, man hat ja nicht für alles Zeit im Leben. Wieso also nicht einen modernen Konzertsaal anstatt eines Mehrzweck-Gemeindezentrums? Der Haimerl saß neben mir und bekam glänzende Augen.“
Es gäbe zwei Systeme, einen Konzertsaal zu bauen, sagt Bauer. „Das Schuhschachtel-Prinzip oder das Weinberg-System. Letzteres wurde zum Beispiel bei den Berliner Philharmonikern oder in der Elbphilharmonie angewendet. Es ist meist teuer umzusetzen und die Akustik nur schwer in den Griff zu kriegen. Das bewährte Prinzip, das seit 200 Jahren angewendet wird, ist die Schuhschachtel.“ Haimerl holte seinen Computer raus, „setzte einfach eine Schuhschachtel auf das Gelände, ließ sie umkippen und halb im Boden verschwinden. Zack, fertig. Das war die Grundidee.“ Aber wie das mit Ideen so ist — sie zu haben ist oft gar nicht das Problem, sie in die Tat umzusetzen schon eher.
Bei der Realisierung eines solchen Projekts stellen sich unweigerlich Hürden in den Weg. Allen voran: Finanzierung und Akzeptanz bei den Verantwortlichen und in der Bevölkerung.
„Es gab viele Ideen, den Ortskern zu gestalten, nur keine Akteur*innen, die ein eigenes Projekt in die Hand genommen hätten. Eine letzte Alternative wäre ein Parkplatz gewesen, der die Gemeinde etwa 400.000 Euro gekostet hätte.“ Zu dem Zeitpunkt gab es ein Städtebauprogramm namens „Ortschaft Mitte“, mit dem ein Ort 60 oder 80 Prozent Förderung erhalten konnte. Wenn man nun die 400.000 Euro als Grundstück nähme und mit den 80 Prozent aus dem Städtebauprogramm aufstockte, dann käme man auf 2 Millionen Euro. „Das ist zwar für ein solches Projekt nicht so viel, aber trotzdem — dann hätten wir anstatt eines Parkplatzes ein Konzerthaus.“
In der Bevölkerung gab es die üblichen Einwände: Kann das Geld nicht für Sinnvolleres ausgegeben werden? Der moderne Bau passt doch gar nicht zu uns! Und die Mehrkosten zahlt dann doch wieder der kleine Mann.
Bezüglich der Kosten gingen Bauer und Haimerl in die Verantwortung. „Wir haben dafür gebürgt, dass die Gemeinde keinen Cent mehr als die 400.000 Euro zahlen muss. Sonst hätten sie sich nicht darauf eingelassen.“
Aus den 80 Prozent Förderung wurden schlussendlich nur 60 Prozent und so kommt es, dass zusätzlich mehrere hunderttausend Euro aufgebracht werden mussten. Das beschert die eine oder andere unruhige Nacht und erfordert Ideenreichtum. Es gab noch eine Beteiligung des Kunstministeriums und Stuhlpatenschaften wurden ausgegeben, 500 Euro pro Sitz. „Manchmal hatten wir einfach auch Glück. Es kam zum Beispiel eine anonyme Spende von 50.000 Euro, ich weiß bis heute nicht, wer das war.“ Zusätzlich musste selbst mit angepackt werden. Bauer steht sechs Wochen auf der Baustelle, um den Granit zu schlagen, aus dem die äußere Hülle des Gebäudes besteht.
Bei einer (nicht repräsentativen) Mini-Umfrage im Ort hatte keiner was gegen den Bau. „Sie hätten den Platz mal vorher sehen sollen, da kann das hier nicht stören.“ Der Ort sei nun viel belebter, auch an Tagen, an denen keine Konzerte stattfinden, kommen Tagesbesucher, um sich das Haus anzusehen. Im Hotel merke man deutlich, wenn Konzerte sind (die durchschnittliche Anfahrt des Publikums beträgt laut Bauer 200 Kilometer). Circa 30.000 Menschen kämen jährlich wegen des Projekts in die Region.
Ob der Ortskern wieder bewohnter ist, ist schwer abzuschätzen. Emails und Anrufe, um beim Bürgermeister nachzufragen, liefen leider ins Leere. Und auch das Einzelhandelssterben in Blaibach scheint das Konzerthaus nicht aufhalten zu können, Textil- und Souvenirladen inserieren ihren Räumungsverkauf in den Schaufenstern. Aber natürlich gebe es Auswirkungen auf die Gastronomie und Hotellerie. „Viel stärker empfinde ich den Effekt, dass die Grundstücke in einem Ort, der zuvor im Kern ein Ruinenfeld war, wegen der gesteigerten Attraktivität von Blaibach wieder an Wert gewinnen. Davon profitiert jeder. Der Marketingeffekt durch die weltweite Berichterstattung ist mit Geld nicht zu bezahlen.“
Aber den Erfolg von Kultur immer nur an volkswirtschaftlichen Größen festzumachen, scheint hier kleinkariert, wenn bedacht wird, mit welchem persönliche Einsatz dieses Projekt realisiert wurde. Warum Bauer sich auf das Risiko eingelassen hat? „Es geht stark um das Verständnis von Kunst und Kultur, was spielen sie für eine Rolle innerhalb einer Gesellschaft? Wie können Kultur und Architektur ein Treibmittel für eine Gesellschaft werden? Mir wurde im Laufe der Zeit klar, dass das ein wichtiges Projekt mit Symbolcharakter sein kann. Außerdem wusste ich, dass es funktioniert. Es wurde genau so, wie es geplant war.“
Der Saal ist mit seinen 200 Plätzen laut Bauer immer ausverkauft, auch am Abend meines Besuches war das so. Das Programm finanziert sich überwiegend aus Spenden und den Einnahmen aus Ticketverkäufen, staatliche und kommunale Zuschüsse betragen nur etwa 4 Prozent des Hausaltes. Die besten Namen der Welt spielen hier, im Januar kommen die Berliner Philharmoniker. Das bringt nicht nur Geld, sondern Renommee.
Der Ort wirbt inzwischen mit dem Konzerthaus und viele andere Gemeinden schauen nach Blaibach. Doch so einfach ist der Erfolg nicht reproduzierbar, hängt er doch zu sehr von der Vision, dem persönlichen Einsatz und der Risikobereitschaft von Bauer und Haimerl ab. „Wenn ihr zwei Irre habt, die alles aufs Spiel setzen, die eine persönliche Bürgschaft unterschreiben, und die sich auf die Baustelle stellen und Steine kloppen, dann habt ihr auch ein Blaibach.“
Foto: Konzerthaus Blaibach
Text: Björn Lüdtke
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Björn Lüdtke arbeitet als freier Journalist und Redakteur. Seine Fachgebiete sind Mode und Lifestyle sowie Branding und Marketing. Im Jahr 2019 reiste er für die Themenreihe “Orte der Zukunft” im Rahmen des Fiction Forums der Kultur- und Kreativwirtschaft quer durch Deutschland. Er machte sich auf die Such nach Orten der Zukunft, wollte Lösungsansätzen nachspüren, sie erleben und ausprobieren. Sein Ziel war es mit den Menschen dahinter ins Gespräch kommen, die nicht nur in Technologie das Allheilmittel sehen, sondern die die kreativen Methoden, Fähigkeiten und Visionen mitbringen, die es braucht, um Ansätze zu finden, die uns eine Zukunft in Freiheit auf einem lebenswerten Planeten sichern.