Woher kommt die Orientierung
Woher kommt die Orientierung

Ein neues Jahrzehnt mit neuen Herausforderungen liegt vor uns. Jetzt ja keine Panik, vor dem was da kommen mag. Einmal tief durchatmen, innehalten und Orientierung finden.

Woher kommt die Orientierung

Ein neues Jahrzehnt mit neuen Herausforderungen liegt vor uns. Jetzt ja keine Panik, vor dem was da kommen mag. Einmal tief durchatmen, innehalten und Orientierung finden.

Woher kommt die Orientierung

Es ist dunkel. Ich blicke mich um, aber sehe nichts. Meine Füße stolpern über Steine und verfangen sich im hohen Gras. Nach kurzer Zeit sind Schuhe und Hosenbeine nass. Kein angenehmes Gefühl. Was mir genau den Weg versperrt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, nur langsam erahnen. Sich zu bewegen ohne etwas zu sehen, ist ein seltsames Gefühl, ich fühle mich unsicher und schutzlos. Wie kann man sich orientieren, ohne den Weg zu kennen? Stehen bleiben ist bei diesem Experiment keine Lösung. Nach ein paar Minuten gewöhnt mein Körper sich an die verbundenen Augen und meine Schritte werden sicherer.

Orientierungslosigkeit kann auch eine befreiende Erfahrung sein – das zeigt der Audiowalk der Künstlerin Ilona Marti, der im Rahmen der Abschlusskonferenz des Kompetenzzentrums Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes stattfand. Für ihre Soundinstallation „Beyond Vision“ hat Marti den Teilnehmer*innen die Augen verbunden und sie mit Kopfhörern ausgestattet, durch die Stimmen und Geräusche klangen: ein friedlicher Teich im Wald, eine Achterbahnfahrt auf der Kirmes, oder eine laute Gartenparty mit vielen Menschen. Die Worte aus den Kopfhörern tauchten als Bilder vor dem inneren Auge auf, nahmen Gestalt an und verschwanden dann wieder. Geführt wurden die Teilnehmenden an der Hand einer stillen Begleitperson. Ohne die führende Person jemals gesehen zu haben, musste dieser warmen Hand vertraut werden, die durchs reale Unterholz zu den spekulativen Orten der Erzählungen geführt hat.

Sich dort orientieren, wo Orientierung schwer fällt. Anderen Sinnen vertrauen, als den gewohnten. Unsicherheit zulassen. Die Führung anderen überlassen – das sind Herausforderungen, deren Meisterung sich für all jene lohnt, die sich in unbeständigen Branchen bewegen. Wie können sie sie sich im Raum orientieren? Wie bereiten sie sich auf die Zukunft vor? Wie können sie Orientierung finden? Wie sich orientieren? Diese Frage stellen sich auch die Akteur*innen der Kultur- und Kreativwirtschaft.

Und diese Fragen wurde im Jahr 2019 auch vom Kompetenzzentrum Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes mit vier unterschiedlichen Schwerpunkten gestellt: Wertschöpfung, Kooperation, Storytelling und Experiment. Im Rahmen von InnovationCamps, dem temporären Begegnungs- und Ausstellungsraum Fiction Forum in Berlin und vielfältigen Konferenzen, Workshops und Netzwerkveranstaltungen. Menschen –  Akteur*innen unterschiedlicher Branchen und Bereiche –  gemeinsam ins Tun zu bringen, zu experimentieren und forschen, um Themen wie KI, Mobilität, Neue Arbeit bis hin zu den drängenden Fragen unserer Zeit in einen neuen Kontext zu setzen, ist dabei der Ansatz, den das Kompetenzzentrum wählt. Denn es geht um nichts weniger als die Zukunft, für die gerade aus der Kultur- und Kreativwirtschaft wichtige Ansätze stammen, um sie erfolgreich und lebenswert zu gestalten.

„Was kommt jetzt?“ war der Name und daher die zentrale Frage der Jahresabschlusskonferenz, zu der das Kompetenzzentrum im Dezember nach Potsdam eingeladen hat. Einen Tag lang haben sich 150 Teilnehmer*innen mit der Zukunft der Kreativwirtschaft beschäftigt: „Neue Werte, andere Narrative, mehr Experimente und mutige Kooperationen“ waren die Schlagworte, die den Vierviertel-Takt des Tags vorgaben. In den vier von Rosy DX, dem Studio für digitale Transformation,  gestalteten Räumen des Tagungszentrums BlauArt fanden Workshops statt, die auf sehr unterschiedliche Weise auf die Frage der Orientierung, des Standpunkts und der Perspektive eingingen und dabei zum letzten Mal in 2019 die Möglichkeit boten, die Perspektive zu wechseln und sich mit neuen Methoden und anderen Mitteln wirtschaftlichen Kernfragen zu nähern. Den Anfang machte der Medienkünstler und Computerwissenschaftler Christian Mio Loclaire mit einer Keynote über sein Projekt „Narciss“. Diese Arbeit beschäftigt sich mit einer künstlichen Intelligenz und ihren Versuchen sich selbst zu erkennen. Loclaire sucht dabei keine Antwort auf die Frage, wie weit die KI ist, sondern wechselt die Perspektive und fragt: „Wie weit sind denn wir?“. Im Hinblick auf technische Entwicklungen und Herausforderung ist diese Fragestellung viel eher dazu geeignet den Einzelnen und eine Gesellschaft als Ganzes in der Ungewissheit zu orientieren.  Und sie bietet einen neuen Zugang zu der oft noch schwer zugänglichen Technologie der KI.

Für den Workshop „We are storytelling animals: Neue Narrative für das Anthropozän“ fanden die Systemische Beraterin Anna Mauersberger und die Teilnehmer*innen sich an einem knisternden Lagerfeuer zusammen. Mauersberger konzipiert Lernerfahrungen, in denen Menschen auf neue, tiefe und unterhaltsame Art mit sich und der Welt in Kontakt kommen.

„Das Feuer ist etwas Gemeinsames, das Licht spendet und Gemeinschaften zusammenbringt“, sagt Mauersberger, die auf einem Kissen im Sitzkreis sitzt. Nacheinander suchen sich die Teilnehmer*innen Objekte aus, die im Raum verteilt liegen: ein Tannenzapfen, ein kleiner Wal, eine Muschel. Eigentlich unbelebte Objekte, in die sich hineinversetzt werden sollte. Wie fühlt sich eine Muschel, wenn das Wasser durch sie hindurchläuft? Wie ein Wal, wenn er strandet? Das Zusammenleben der Menschen in der Natur und mit den Tieren kann anders aussehen, wenn wir es anders erzählen, so Mauersberger. Das Erzählen steht bei ihr im Zentrum. Ihr Ansatz erinnert an das Fiction Forum, einem Begegnungs- und Ausstellungsraum, der von Juli bis Oktober ebenfalls vom Kompetenzzentrum der Kultur- und Kreativwirtschaft betrieben wurde. Einer ungewissen Zukunft kann mit Entwürfen begegnet wird, deren Potenzial sich entfaltet, wenn man der kreativen Spekulation Raum gibt.

„Experiment hat bisher zu wenig Raum in klassischen Wirtschaftszweigen oder im Mittelstand“, erläutert Julia Köhn vom Kompetenzzentrum die Herangehensweise: „Das liegt u. a. auch daran, dass sich der Wert und Outcome eines solchen Vorgehens finanziell schlecht bemessen lässt und das Risiko eines ergebnisoffenen Arbeitens mittelständischen Unternehmen oft zu groß erscheint.“

Das aber gerade darin wichtiges Zukunftspotenzial steckt, wurde auch im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie erkannt, wo Ende 2019 die erste Ausschreibungsrunde für ein Innovationsprogramm für Geschäftsmodelle und Pionierlösungen gestartet wurde. Mit dem neuen Innovationsprogramm (IGP) erweitert das BMWi den Fokus seiner Innovationsförderung auf marktnahe nichttechnische Innovationen. Dabei können bei den vom IGP unterstützten Innovationsprojekten und -netzwerken zwar neue Technologien eine große Rolle spielen – sie müssen dies allerdings nicht zwingend; wichtig ist vielmehr die Neuartigkeit der Problemlösung. Damit eröffnet das IGP einer großen Bandbreite an neuen Ideen in verschiedenen Zukunftsfeldern Realisierungschancen.

Arved Bünning, Geschäftsführer und Mitgründer von Amberskin hat sich mit seinem Projekt auf unebene Wege begeben. Er stellt veganes Leder her, eine Aufgabe, die ihn als Produktdesginer vor einige Probleme stellte. „Was mach ich, wenn ich etwas machen will, was ich nicht kann?“, fragt er während seines Vortrags. Als Kreativpilot erzählt er davon, dass es wichtig ist mit Menschen in Kooperation zu gehen, selbst wenn man zu Beginn nicht dieselbe Sprach- oder Wertgemeinschaft bildet. „Man muss nur den Prozess gestalten können“, sagt Bünning, der bei Designer*innen wie ihm von „professionellen Lai*innen“ spricht – ein Plädoyer für mehr mutige Kooperationen.

Prof. Dr. Bernd Ankenbrand, seines Zeichens Sinnökonom und einer der Impulsgeber der Konferenz erforscht auf internationaler Ebene die Wert- und Risikomaßstäbe unseres Vermögens. Seine Vorträge geben ungewöhnliche Einblicke in die oft überraschenden Phänomene der Sinnökonomie. „Welche Maßstäbe legt ihr an?“, fragt er und lässt an einer Weltkarte die Größenverhältnisse verschiedener Länder erraten. Wenn Länder auf einer Karte um einen bestimmten Maßstab verkleinert wiedergegeben werden, ist das nur mit Verzerrungen am Kartenrand möglich: Länder wie Finnland oder Norwegen erscheinen so größer als sie bezogen auf ihre Fläche eigentlich sind. Die Frage nach dem richtigen Maßstab wendet Ankenbrand auch auf die Kreativwirtschaft an: „Wir müssen anfangen, in den Maßstäben zu messen, die uns wichtig sind“, fordert er. Wenn es die Wertschöpfung ist, die die Kreativwirtschaft ausmacht, müssen Maßstäbe bestimmt werden, die dazu auch in der Lage sind.

„Was kommt jetzt?“, fragte Johannes Tomm von Kompetenzzentrum zu Beginn der Konferenz. Nach drei Jahren zieht das Kompetenzzentrum ein Fazit seiner Arbeit. „Was kommt jetzt?“ sei vielmehr die Antwort, so Tomm, der man sich fortan immer wieder neu stellen müsse.

Was ist eigentlich Orientierung? Woran kann man sich festhalten? Wo sind die Koordinaten für das, was Orientierung ist? In seiner Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren findet Immanuel Kant sich in einer unbekannten Landschaft wieder und versucht sich zu orientieren. Im Osten sieht er die aufgehende Sonne und kann damit seine Position bestimmen. Diese Form der Orientierung gelte auch für den spekulativen Raum des Denkens, so Kant. Sich zu orientieren sei nicht nur eine Aufgabe des Verstands, sondern auch immer eine sinnliche Erfahrung des Körpers in Raum und Zeit. Mit dem Soundwalk von Ilona Marti hat das Kompetenzzentrum die richtige künstlerische Arbeit für die Aufgaben des Tages eingeladen. Orientierung zu finden bedeutet einerseits Begriffe zu bilden und den Verstand zu gebrauchen, andererseits auf taktile Berührung zu reagieren und die Erfahrung zu nutzen, um sich im Raum zu lokalisieren. Beides zusammen ermöglicht Orientierung. „Was kommt jetzt?“, fragte Johannes Tomm von Kompetenzzentrum zu Beginn der Konferenz. Nach drei Jahren zieht das Kompetenzzentrum ein Fazit seiner Arbeit. „Was kommt jetzt?“ sei vielmehr die Antwort, so Tomm, der man sich fortan immer wieder neu stellen müsse.

Innovationsprogramm für Geschäftsmodelle und Pionierlösungen

Mit dem neuen Innovationsprogramm für Geschäftsmodelle und Pionierlösungen (IGP) erweitert das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie den Fokus seiner Innovationsförderung auf marktnahe nichttechnische Innovationen. Dabei können bei den vom IGP unterstützten Innovationsprojekten und -netzwerken zwar neue Technologien eine große Rolle spielen – sie müssen dies allerdings nicht zwingend; wichtig ist vielmehr die Neuartigkeit der Problemlösung. Damit eröffnet das IGP einer großen Bandbreite an neuen Ideen in verschiedenen Zukunftsfeldern Realisierungschancen.

Ein erster Förderaufruf ist Ende 2019 gestartet; er adressiert digitale und datengetriebene Geschäftsmodelle und Pionierlösungen. Für das zweite Quartal 2020 ist ein zweiter Aufruf geplant, der besonders auf kultur- und kreativwirtschaftliche Innovationen zielt. Ein dritter Aufruf soll voraussichtlich Innovationen mit einem besonders hohen „Social Impact“ adressieren. Das IGP ist als Pilotförderung angelegt. Es stehen rund 25 Millionen Euro über vier Jahre zur Verfügung.

Quelle: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Innovation/igp.html

Foto: Mina Gerngross
Text: Lena Fiedler
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Lena Fiedler lebt und arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Für Zeit Online schreibt sie über Popkultur, Subkulturen und das Ruhrgebiet.